Nun, heute in Amerika…

Die Vereinigten Staaten beherbergen weltweit die meisten Einelternfamilien. Die Abwesenheit der Vaterfigur hat dramatische Folgen auch für die Gesellschaft der USA. Die Politik versucht, mit verschiedenen Ansätzen dem Problem zu begegnen. Aus den USA berichtet Carsten Peters.

„Bleibt hier! Geht nicht weg so wie mein Vater, als ich ein halbes Jahr alt war!“, bölkt feixend der dunkelhäutige Straßenakrobat seinen Zuschauern zu. Alle lachen – jeder weiß augenscheinlich sofort um den tieferen Sinn der schelmischen Bemerkung. Der „Witz“ hat jedoch einen ernsten Hintergrund.

Die Vereinigten Staaten beherbergen weltweit die meisten Einelternfamilien. Fast ein Viertel aller Kinder unter 18 Jahren lebt mit nur einem Elternteil zusammen. Damit hat sich die Anzahl derartiger Haushalte seit 1970 verdoppelt. 80 Prozent von ihnen werden von alleinerziehenden Müttern geführt. Der biologische Vater spielt dort in der Regel kaum eine Rolle. Besonders dramatisch ist das Phänomen unter Afroamerikanern und – in geringerem Maße – bei Latinos.

Weit mehr als die Hälfte aller schwarzen Hausstände lebt ohne oder mit wechselnden männlichen Bezugspersonen. In weißen und asiatischstämmigen Gemeinschaften tut sich das Phänomen nicht einmal halb so viel vor. Sowohl die individuellen als auch die gesellschaftlichen Folgen der vaterlosen Erziehung sind gut untersucht. Sie stellen für das Sozialgefüge in den USA eine wachsende und kostenintensive Herausforderung dar.

Wenn es um Familie geht, ist die auf Medien konzentrierte US-Gesellschaft noch sehr mütterzentriert. 2006 beschrieb Professor Jim R. Macnamara im Buch „Media and Male Identity“ (Medien und männliche Identität) das von den US-Medien kolportierte Mütterbild: Zum Beispiel die sich für die (Sport-)Interessen ihrer Kinder aufopfernden „Baseball-Moms“ bis hin zu stets vergebenden Alles-Versteherinnen. Männer kommen im konstruierten Familien-Idyll kaum vor. Egal ob im Fernsehen oder Film. Und wenn doch, dann zumeist als geradezu toxische oder gewaltbereite Karikaturen – ein mittlerweile weit verbreiteter Stereotyp.

Wert des Vaters wird nicht erkannt

Für die USA gilt außerdem: „Wenn Behörden mit Erziehungsberechtigten sprechen wollen, dann fragen sie zuerst nach der Mutter“, so Ray Williams von der Beratungsorganisation Father Matters (Vater ist wichtig). Das Scheidungsrecht bevorzugt zudem meist Frauen. Der Journalist Guy Garcia diagnostiziert den USA in seinem Buch „The Decline of Men“ (Der Niedergang der Männer) darüber hinaus eine „schwindende Männlichkeit“ an sich. David Blankenhorn, Präsident des Institute for American Values (Institut für amerikanische Werte), argumentiert, daß zwar ein jeder den Wert von Müttern zu erkennen scheint, aber noch kaum einer den von Vätern. Er sieht in der Diskussion um männliches Rollenverständnis ferner eine Kulturkrise.

Der Effekt auf vaterlos Heranwachsende ist meßbar. Die US-Statistikbehörde weist 85 Prozent aller psychisch auffälligen Jugendlichen als Abkömmlinge vaterloser Haushalte aus. Dasselbe gilt für 70 Prozent aller erwachsenen Patienten in Drogenrehabilitationszentren. Mädchen, die von ihren Vätern vor dem fünften Lebensjahr getrennt wurden, haben ein achtmal höheres Risiko einer Teenager-Schwangerschaft. Einige Studien legen nahe, daß Menschen ohne (positive) männliche Bezugsperson sogar ein höheres Selbstmordrisiko aufzuweisen scheinen.

Eine Untersuchung zu 56 Amokläufen an Schulen belegt, daß nur 18 Prozent der Täter in einer stabilen Familiensituation aufgewachsen sind. Ähnliche Ziffern zeigen die Kriminalstatistiken: 90 Prozent aller Gefängnisinsassen sind beziehungsweise waren vaterlos. Das deutlich schlechtere schulische sowie berufliche Abschneiden von Kindern ohne Vaterbindung ist überdies schon lange bekannt. Armut kann hiervon die Folge sein. Selbstverständlich leiden nicht nur die Kinder, sondern auch die alleinstehenden Mütter und Väter oft unter ihrer Situation.

Obama widmete sich dem Thema in Vatertags-Rede

Das Gesagte gilt in besonderem Maße für Afroamerikaner: In einer bahnbrechenden, aber auch durchaus ob seiner unterschwellig rassistischen Tendenzen kontroversen Untersuchung des US-Arbeitsministeriums zur Lebenswirklichkeit afroamerikanischer Familien (Moynihan-Report) stellte dessen Urheber 1965 unter anderem fest: Für die desolate Situation der Schwarzen in Amerika ist nicht nur die epochenlange Unterdrückung und Armut derselben ausschlaggebend. Hierzu komme gleichsam das damit einhergehende Nicht-Entwickeln einer schwarzamerikanischen Familientradition. Laut Report besonders betroffen hiervon sei die schwarze Unterschicht.

Seit 1965 gab es zahlreiche Anschlußstudien, die zentrale Punkte der damaligen Erkenntnisse bestätigten. Etliche Körperschaften fordern daher ein verstärktes soziales, kirchliches, aber auch staatliches Engagement für nachgewiesene Problemgruppen. Schon der nach eigenem Dafürhalten politisch stark familienorientierte Ex-Präsident Barack Obama ermutigte in seiner berühmt gewordenen Vatertags-Rede von 2008 besonders seine männlichen schwarzen Mitbürger zu mehr familiärem Verantwortungsbewußtsein. Auch Präsident Joe Biden hat sich eine pro-afroamerikanische Familienpolitik auf die Fahnen geschrieben. Dazu gehört die umstrittene Bevorzugungspolitik aller als marginalisiert definierter Randgruppen.

In der Vergangenheit fiel Biden allerdings häufiger durch Schwarzen-kritische Äußerungen auf. So schlug er Afroamerikanern vor, das Radio anzustellen, damit deren Kinder einmal jemanden reden hörten. Die häufige Teilnahmslosigkeit besonders von schwarzen Eltern gegenüber ihrem Nachwuchs fällt allerdings im Alltag tatsächlich oft auf. Das Gros der dunkelhäutigen US-Kinder zeigt demgemäß regelmäßig in Tests zur Sprach-, Lese- und Schreibfähigkeit unterdurchschnittliche Kompetenzen. Aber kann das Problem allein durch staatliche Interventionen gelöst werden?

Familienpolitik sucht nach Heilmittel

Laut einer Umfrage von 2022 halten nur 13 Prozent der Bürger diesbezügliche Eingriffe für wünschenswert. Über den Erfolg bisheriger familienfördernder Maßnahmen, speziell im Hinblick auf Minderheiten, streiten sich seit Jahren Verantwortungsträger aller Lager. Dagegen glauben 84 Prozent der US-Bürger an die essentielle Funktion der an sogenannten „amerikanischen Werten“ orientierten Kernfamilie.

Die Debatte um das Phänomen vaterloser Familien gestaltet sich vor dem Hintergrund des polarisierten gesellschaftlichen Klimas in Amerika schwierig. Ein für alle befriedigender Lösungsansatz ist noch nicht gefunden. Der frühere Präsident George W. Bush plante, alleinerziehende Mütter aus dem Teufelskreis staatlicher Versorgung herauszuziehen, und beabsichtigte, diese zu einer Mindestarbeitsstundenzahl zu verpflichten. Donald Trump wollte gestaffelte Steuern für ausgewählte Gruppen Alleinerziehender. Die Vorhaben wurden nie vollständig in die Tat umgesetzt. Das Problem der Vaterlosigkeit behandelten die Macher der Gesetzesentwürfe hierbei kaum.

Vaterlose Jugendlich kosten den Staat Geld

Es ging auch nicht nur um strukturelle Neuregelungen oder Hilfe für Betroffene, sondern obendrein ums Sparen. Denn Vaterlosigkeit kommt den Steuerzahler teuer zu stehen. In einer erstmalig zum Thema 2008 erhobenen Studie der National Fatherhood Initiative (Nationale Initiative zur Vaterschaft) gehen die Verfasser – konservativ geschätzt – von jährlich 100 Milliarden Dollar an staatlichen Aufwendungen zur Regulierung der Folgen vaterloser Haushalte aus. In der Berechnung gar nicht enthalten sind entgangene Steuergelder durch nicht arbeitende Elternteile und die höheren Kosten, die dem Gesundheits- und Rechtssystem durch vaterlose Jugendliche entstehen.

Die Diskussion innerhalb der USA um die Rolle werteorientierter Familien und um geschlechtliche Rollenbilder erscheint manchem angesichts der aggressiven Auseinandersetzungen darüber inzwischen als moralisch heikel und beinahe altbacken. Zwar garantiert ein Vater nicht eine erfolgreiche oder problemlos verlaufende Jugend – das weiß jeder –, aber die Datenlage beweist es: Er ist wichtig. Dazu ein Beispiel aus dem New Yorker Alltag: Ein Papa schubst auf dem Bürgersteig die Kinderkarre wild herum und macht Faxen. Die Äuglein seines vergnügt quakenden Sohnes schweifen zwischen ihm und dessen sorgsam gehegten Bilderbuch hin und her. Titel des Werkes: „Unser Sonnensystem“. Wahrscheinlich hätte der afroamerikanische Straßenakrobat so etwas auch gerne einmal erlebt.

Autor: Redaktion, 20.11.2023

Quelle:

Unterstützen Sie originellen unabhängigen Journalismus!
Kontonummer: 1511201888/5500 
IBAN: CZ7755000000001511201888
BIC/SWIFT: RZBCCZPP
Kontoinhaber:
BulvarART GmbH
www.mestankurier.info
© Copyright 2023

#mestankurier.info